Die Monster des Patri­ar­chats. The Substance (2024)

Das war sicher­lich einer der ekligsten und brutalsten Filme, den wir je gesehen haben, und das, obwohl wir uns so ziem­lich alles anschauen, was an Body Horror ins Kino kommt. Coralie Fargeats The Subs­tance endet mit einer Freak­show der überaus dras­ti­schen Art. Anstelle der süßen, gut gelaunten jungen Mode­ra­torin tritt ein defor­mierter, verstüm­melter, schlei­miger und wabernder Körper auf die Bühne, um die große Neujahrs­show im Fern­sehen zu mode­rieren. Mit Brüsten, die aus der Hüfte hängen und einem Gebiss, das im Bauch­nabel fest­steckt. Die glit­zernden Ohrringe baumeln irgendwo am Hinter­kopf, da, wo sie sich am besten im Fleisch versenken lassen. Kurz bevor diese Perso­ni­fi­ka­tion des Monströs-Weiblichen auftritt, wird der fast kahle Kopf einer alten Frau so lange gegen den Spiegel geschlagen, bis kein Gesicht mehr zu erkennen ist. Die Tonspur unter­legt jeden Schlag mit einem dumpfen kalten Knall, so dass man sich den Aufprall auch vorstellen muss, wenn man die Augen schließt. Es wird berichtet, dass Zuschauer:innen das Kino verlassen haben; sie hielten die Bilder nichtaus.

Die Bilder bleiben. Sie zu beschreiben ist schwierig, es gibt für Unformen kaum Wörter. Die Wucht dieser visze­ralen visu­ellen Insze­nie­rung hat auch damit zu tun, dass die mons­trösen Fleisch­wu­che­rungen in eine perfekte kali­for­ni­sche Kulisse einbre­chen: Elisa­beth Sparkle, gespielt von Demi Moore, zuerst Holly­wood Star, später Star des US-amerikanischen Aerobic-Fernsehens, ist gerade 50 geworden und soll durch eine Jüngere ersetzt werden. Sie tanzte jahre­lang fürs Früh­stücks­fern­sehen, assis­tiert von den Hintern und Ober­schen­keln jüngerer Schau­spie­le­rinnen und Tänze­rinnen, die alle­samt aus einem unsterb­li­chen Hightech-Material gemacht zu sein scheinen.

Als Sparkle vom Studio­boss Harvey, verkör­pert von Dennis Quaid, bei einem gemein­samen Essen beiläufig darüber infor­miert wird, dass sie durch eine Jüngere ersetzt werden soll, ist sie verzwei­felt. Aber nicht lange. Sie greift nach einem Stroh­halm, der sich ihr bei nächster Gele­gen­heit bietet – und der dem Film einen dysto­pi­schen Twist verleiht: Als sie nach einem heftigen Unfall einen Arzt aufsucht, gibt ihr der Assis­tent, ein Leni-Riefenstahl-Jüngling mit stahl­blauen Augen, einen USB-Stick mit der Aufschrift „The Subs­tance“. Dahinter verbirgt sich ein leuch­tend gelbes Serum, vertrieben von einem anonymen Anbieter, das eine jüngere Vari­ante des eigenen Selbst verspricht.

Geburt

Im Unter­schied zu digi­talen Dysto­pien – wie etwa The Matrix (Lana und Lilly Wachowski, 1999) – gehört Fargeats Film zum Genre des Bio- und Body­hor­rors. Nicht cleane Codes setzen den Alptraum in Gang, sondern die leuch­tend gelbe Flüs­sig­keit, die durch Schläuche und Spritzen brachial inji­ziert werden muss. Wer sich auf das Verspre­chen der Substanz einlassen will – „a better version of yourself“ zu kreieren, womit ausschließ­lich eine jüngere, einem stereo­typen Schön­heits­ideal entspre­chende Doppel­gän­gerin gemeint ist –, muss bereit sein zu leiden. Die Spritze in die eigene Vene, die Infu­sion, mit der die Substanz zuge­führt wird, ist dabei nur der Anfang, der zu einer unauf­halt­samen Stei­ge­rung führt: der Geburt des „besseren Selbst“.
Es ist diese Geburt, die den Body­horror unauf­haltsam einleitet und die auch selbst schon Body­horror ist. Das liegt nicht nur daran, dass wir es nicht gewohnt sind, Geburten im Film zu sehen. Geburten gehören in Film und Lite­ratur über­haupt zu den am wenigsten erzählten und gezeigten Ereig­nissen. Viel­mehr wird diese Geburt brutal und maximal verfremdet gezeigt, denn der junge Körper verlässt den alten an der ‚falschen‘ Stelle. Sparkle drückt ihre bessere Version nicht etwa durch die Vagina, sondern bringt sie am Rück­grat vorbei zur Welt. Anders als Alexia, die Prot­ago­nistin von Julia Ducournaus gefei­ertem Body­hor­ror­film Titane (2021), die ein Cyborg-Wesen, halb Mensch, halb Auto­mobil, mit einer „natür­li­chen“ Geburt auf die Welt bringt, trägt die Rücken­ge­burt bei Fargeat nichts zu einer „mensch­li­cheren“ Idee des Zusam­men­le­bens zwischen mensch­li­chen und nicht­mensch­li­chen Wesen in einer queeren Zukunft bei.Sparkle gebiert nur Sparkle, bzw. Sue, wie sich die jüngere Version nennen wird.
Die autoper­for­ma­tive Fort­pflan­zung repro­du­ziert nicht nur Sparkle als Sue, sondern auch über­kom­mene Vorstel­lungen über Weib­lich­keit in jüngeren Körpern. Die Subs­tance ist wohl – so unsere These – nichts anderes als der Samen des Patri­ar­chats, eine Geburts­ver­sion jenes Systems, in dem weib­liche Jugend hofiert und weib­li­ches Alter versteckt wird (gilt übri­gens auch für Männer, auch sie haben „Subs­tance“ bestellt).

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Still aus „The Subs­tance“: der zuge­nähte Rücken nach der Geburt.

Während Plato in der Antike die Geburt in den Kopf verlegte, um die Entste­hung der Philo­so­phie als Hebam­men­kunst darstellen zu können, beginnt mit dieser Geburt im Film nichts Neues. Die Subs­tance garan­tiert nur die ewige Repro­duk­tion des Systems. Denn die Geburt der jüngeren Version gibt es nur zum Preis eines koma­tösen Schlafes der alten, und dies jeweils für sieben Tage: ein Entweder-Oder von jung oder alt, ein unglei­ches Gleich­ge­wicht, das schließ­lich aus den Fugen gerät und den Body­horror zwischen Parasit (jung) und Wirt (alt) eska­liert. Der Hinweis auf Oscar Wildes Erzäh­lung „The Picture of Dorian Grey“ (1890) könnte deut­li­cher nicht sein. Kaum steht die junge Version – eine zur Kennt­lich­keit verzerrte Männer­fan­tasie, auf langen Beinen –, wird sie auch schon gegen ihr älteres Ich ausge­spielt. So wendet sie sich mit aller Gewalt und ausschließ­lich gegen die ausge­mus­terte Version ihrer selbst, obwohl sie weiß, dass sie ohne sie als ihre nährende Matrix gar nicht exis­tieren kann.

Ekel und/oder Horror

Selbst wenn man ab und zu mal wegschauen muss, zeigt sich im Film eine affek­tive Diffe­ren­zie­rung zwischen Ekel und Horror: Der Ekel bezieht sich nicht auf den Zerfall des weib­li­chen Körpers, sondern auf die Mons­tro­si­täten des Patri­ar­chats. Den ersten Ekel­mo­ment provo­ziert Studio­boss Harvey (Dennis Quaid), ein schmat­zender, Garnelen schlür­fender eben­falls alternder Mann, gleich zu Beginn des Films. Die Kamera fährt ihm fast in den Mund – zwischen Spucke und zerkaute Weich­tiere – und die Tonspur verstärkt erbar­mungslos die Kaugeräusche.

Die Monster des Patri­ar­chats. The Substance (3)

Still aus „The Subs­tance“. Studio­boss Harvey isst Garnelen.

Der vor sich hin faulende Körper Elisa­beths hingegen weckt keinen Ekel, sondern, ganz aris­to­te­lisch, Furcht und Mitleid. Hier zeigt sich der affekt­poe­ti­sche Clou des Films: Während der perfekte junge Körper in seiner Art, die Matrix zu kanni­ba­li­sieren, bei den Zuschauer:innen denselben Ekel hervor­ruft wie der wider­liche Studio­chef beim Garne­len­fressen, bekommt die leblos im Bad liegende und rasend die Wohnung verwüs­tende Elisa­beth eine eigen­ar­tige Würde. Die perfekten Ober­flä­chen werden als morbide, lebens­feind­liche Produkte einer Gesell­schaft ausge­stellt, die weib­liche Körper als Konsum­güter verarbeiten.

Es ist nicht das erste Mal, dass Coralie Fargeat eine junge Frau als Teil der glän­zenden Ober­fläche auf der Lein­wand erscheinen lässt, hinter der sich der stin­kende, faulende Abgrund patri­ar­chaler Gewalt verbirgt. Ihr Erst­ling Revenge (2017), nicht zufällig im Jahr von #MeToo entstanden, arbeitet mit den Mitteln des Explo­ita­ti­on­kinos, um zu zeigen, was das Patri­ar­chat eigent­lich produ­ziert, wenn Schul­mäd­chen zu Geliebten von skru­pel­losen Machos und zum Frei­wild werden. Jennifer, die junge Frau, die verge­wal­tigt und beinahe ermordet wird, verwan­delt sich in eine unbe­sieg­bare Jägerin; der Schmerz und die Wut treiben sie bei ihrem Rache­feldzug an wie eineDroge.

Mons­tröse Weiblichkeit

Auch Coralie Fargeats neuer Film zitiert im Minu­ten­takt aus dem Kanon des Horrors: von Kubricks The Shining (das Teppich­muster im Flur des Fern­seh­stu­dios erin­nert ans Over­look Hotel) bis zu Brian de Palmas Carrie mit der berühmten Blut­du­sche. Mit The Subs­tance schreibt Fargeat jedoch die patri­ar­chale Sicht des „mons­trösen Weib­li­chen“, wie es die femi­nis­ti­sche Film­wis­sen­schaft­lerin Barbara Creed genannt hat, in bereits bewährter femi­nis­ti­scher Tradi­tion um. Während der Body Horror des 20. Jahr­hun­derts noch die Bedro­hung des Patri­ar­chats im Fokus hatte und die männ­liche Angst vor der phal­li­schen Frau insze­nierte, arbeiten Regis­seu­rinnen wie Claire Denis (Trouble Every Day, 2001) oder Julia Ducournau (Raw 2016, Titane 2021) mit dem vorhan­denen Mate­rial, der Substanz des Kinos, und arran­gieren esneu.
Doch im Unter­schied zu Sparkle entsteht bei Fargeat durchaus etwas Neues, auch wenn der Film in alten Mustern gelesen wird: als Abrech­nung mit Schön­heits­idealen, als Kritik an ausran­gierten Frauen über 50 oder als Studie über „die Häss­lich­keit des Schön­heits­wahns“ und „weib­li­chen Selbst­hass“. In dieser Logik zerstört sich Elisabeth/Sue selbst, weil sie sich nicht mehr genügt, weil sie zu alt ist, zu faltig.
Aber The Subs­tance ist nicht einfach ein Film über Frauen im Showbiz, die in den Wech­sel­jahren ausge­mus­tert werden, sondern eine scho­nungs­lose Visua­li­sie­rung des verin­ner­lichten Patri­ar­chats, das sich immer wieder selbst hervor­bringt. Es sind die Profiteur:innen des Systems, die es selbst am Laufen halten. Sue, die „bessere Version“, ist bereit, für diese Welt zu töten. Sie ist es, die die gebrech­liche und schon unför­mige Elisa­beth brutal gegen den Spiegel schlägt und umbringt. In ihrem jungen Körper wütet die Substanz, die es sogar schafft, dieje­nigen, die sie am deut­lichsten ausbeutet, zu ihren Vertei­di­ge­rinnen zu machen.
Dass sich der Fern­seh­sender und auch das Fern­seh­pu­blikum am Schluss das Monster, das es selbst hervor­brachte, live anschauen muss, ist schon fast wieder komisch. Was man da auf der Bühne nach außen gekehrt sehen kann, so könnte man zusam­men­fassen, ist das, was wir verin­ner­licht haben: die Substanz. So gesehen lässt sich die Fress-Szene mit dem Fern­seh­boss Harvey zu Beginn schon als Vorschau des kommenden Body­hor­rorslesen.
In seiner femi­nis­ti­schen Kritik erin­nert The Subs­tance uns daran, dass Femi­nismus eine Kritik an der Verin­ner­li­chung von Struk­turen ist, die uns unter­drü­cken, selbst wenn wir zeit­weise und ober­fläch­lich von ihnen zu profi­tieren scheinen. Es sind auch Frauen, die diese Struk­turen perma­nent reproduzieren.

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